Was doch Vorurteile alles auslösen können! Als seinerzeit in der Schweiz die mobilen Telefone aufkamen, gehörte ich zu den ersten, die sich eines zulegten. Mein Auto, das mir für die Besuche meiner Kunden gute Dienste tat, sollte sich in ein mobiles Büro verwandeln – und dieses Büro sollte so komfortabel und sicher wie möglich sein. Nur deshalb – nicht, weil ich angeben wollte – fiel meine Wahl auf einen Rolls Royce, davon habe ich bereits an anderer Stelle berichtet. Ich hatte mir ausgerechnet, dass ich ihn mir ohne weiteres leisten könnte, wenn ich nicht versuchen würde, meinen Lebensstil dieser Luxuskarosse anzupassen, sondern von diesem Auto abgesehen meine bescheidenen und sparsamen Gewohnheiten beibehalten würde. Weshalb sollte ich in Luxushotels absteigen und in Nobelrestaurants essen, nur weil ich aus einem Rolls Royce stieg?
Ohne Allüren
Zusammen mit meinem Chauffeur, der, wenn er mich nicht chauffierte, Student war, begab ich mich zur Rolls Royce-Garage, um mir dieses „mobile Büro“ zuzulegen; wir zogen die Mäntel noch etwas glatt, bevor wir eintraten, um einen guten Eindruck zu machen, und stellten erstaunt fest, dass dieses Autohaus, bei dem wir uns auf ziemliches Protz-Gehabe eingestellt hatten, ein ganz gewöhnliches Autohaus war, ohne Allüren und angenehm dezent. So gesehen passte es genau zu meinem Vorhaben. Ich ließ mich fortan also, meist von meinem Chauffeur, im Rolls von Kunde zu Kunde fahren, wohnte aber auf meinen Geschäftsreisen in den selben Hotels und aß in den selben Restaurants wie vor der Anschaffung. Dabei war mir aber rasch klar, dass die Menschen allein beim Anblick der noblen Karosse Rückschlüsse auf die Besitzerin zogen und nicht selten verblüfft wurden, wenn sich ihre Vorstellungen so gar nicht mit der Realität deckten.
Unfall mit Folgen
Eines Tages beispielsweise, als ich selbst am Steuer saß, fuhr ich an einem Tiefenlader vorbei, der Baumstämme geladen hatte. Als ich gewahr wurde, dass die Last auf dem LKW sich verschob, bremste ich ab, und das alte Auto, das hinter mir fuhr und die Situation nicht rechtzeitig umrissen hatte, fuhr auf meinen Rolls Royce auf. Ich brauchte eine Weile, bevor ich aus dem Auto stieg, denn ich hatte seit jeher die Angewohnheit, erst dann auszusteigen, wenn ich wusste, dass nichts Schlimmeres passiert war und ich so weit gefasst war, dass ich über das Missgeschick lachen konnte. Rasch waren Feuerwehr und Polizei vor Ort, der Schaden wurde geregelt, und ich hätte nicht weiter darüber nachgedacht – wäre nicht am folgenden Tag eine Mitarbeiterin lachend auf mich zugekommen. „Das waren doch Sie gestern, bei dem Unfall mit dem Tieflader, nicht wahr?“ fragte sie mich.
Wo bleibt „der Bonz“?
Wie sich herausstellte, kannte sie den Polizisten, der den Unfall aufgenommen hatte und ihr von diesem berichtet hatte. Der Polizist hatte den Rolls Royce gesehen und sofort seine eigenen Bilder im Kopf gehabt: Er erwartete, dass jeden Moment ein wutschnaubender Bonze aus der Karosse steigen und sich wegen der Beschädigung seines Wagens wichtig machen würde und war bass erstaunt, dass stattdessen ein lachendes Fraueli die Fahrertür öffnete. Das passte nun so gar nicht in sein Weltbild. Nach der ersten Verblüffung verstieg er sich in die nächste Theorie: Die Frau, die aus dem Auto stieg, müsse wohl die Haushälterin des Rolls-Royce-Bonzen sein, die sich vermutlich heimlich und widerrechtlich zu einer Spritztour aufgemacht hatte… und so wartete er weiter darauf, dass „der Bonz“ demnächst ums Eck kommen, Rabatz machen und die arme Frau in Grund und Boden schimpfen würde. Es dauerte, bis er begriff, dass er vor der Besitzerin des Wagens stand.
Vorurteile überprüfen
Ja, so sind Vorurteile… Sicher, viele davon beruhen auf Erfahrungen, die wir im Lauf unseres Lebens gemacht haben. Aber es muss nicht immer so sein, wie wir uns das vorstellen. Wenn wir an unseren Vorurteilen festhalten, versperren wir uns den Weg für viele positive Erfahrungen. Es ist wichtig, dass wir offen bleiben dafür, dass das Leben vielfältiger und bunter ist als wir gemeinhin annehmen – und dass es immer wieder Überraschungen für uns bereithält.